Episode 1_ Ella geht raus

Ella geht raus.

Verlässt das Haus. 
Das ist nicht ungewöhnlich. 
Sie nimmt die Treppen. Macht sie immer. Bauch, Beine, Po.
Ella geht shoppen. Zuerst aber holt sie sich einen Cappuccino, wie jeden Tag. 
Heute aber nicht wie sonst, to go. Nein neuerdings, einmal die Woche, immer mittwochs, to stay im sonnigen Gastgarten.
Diesem Umstand liegt der Entschluss zu Grunde, ein nachhaltig lebender Mensch zu werden. Ein Becher weniger pro Woche, das sind 52 Becher weniger pro Jahr. Ob dieser Rechnung fühlt Ella sich richtig gut. Ella ist glücklich. Ella ist, in diesem Moment und eigentlich überhaupt, so fucking glücklich, dass sie doch einen kurzen Moment daran denken muss, wie schön es wäre, diesen Umstand mit jemandem  zu teilen. 
Sie wischt den Gedanken beiseite. Genau in dem Moment, in dem sie die von jemand anderem am Tisch stehen gelassene, nur zur Hälfte ausgetrunkene Tasse zur Seite schiebt und ihre eigene hinstellt.

Darüber muss sie lächeln, weil sie es mag, wenn ihre Gedanken manchmal ganz zufällig exakt zu den kleinen, beiläufigen Handhabungen passen, die sie gerade ausführt. Wegwischen. Zur Seite stellen. 

Die zur Seite gestellte Tasse ist noch halbvoll, weil Hanna, die hier vor ein paar Augenblicken noch saß, zu aufgeregt war, um ihren doppelten Espresso ganz auszutrinken. Zu aufgeregt um sitzen zu bleiben. Also stand sie auf, suchte einen anderen Ort. Jetzt steht sie in einer Seitengasse, hält sich ihr Handy vors Gesicht und macht ein Video. Sie kann einfach nicht anders. Heute Morgen hat sie online einen Artikel darüber gelesen, dass irgendwo auf der Welt irgendwelche Menschen Kinder entführen, um aus deren Blut Anti-Aging-Produkte zu machen. Das regt Hanna auf. Allerdings weiß sie nicht genau, was sie mehr aufregt – dass jemand solche Artikel schreibt oder dass sich in ihr ein kleiner, sonst meist ganz unberührter, Fleck, rührt, der meint, es gäbe eine geringe, aber realistische Chance, dass die in diesem Artikel aufgeworfenen Theorien und Szenarien tatsächlich stimmen. Hanna hat eine Meinung dazu. Und diese brennt nun schon seit Stunden so sehr unter ihrer Haut, dass das Einzige, das ihr Ruhe und Frieden verschaffen kann, ein Video ist. Eben dieses Video, das sie gerade aufnimmt, keuchend vor Aufregung in ihr Handy sprechend. Für Hanna ist das ganz normal. Sie macht sowas oft. 

Nicht normal ist sowas für Hans, der gerade mit seiner Frau einen Spaziergang macht und an Hanna vorbeigeht, während sie allein und scheinbar von allen guten Geistern verlassen in ihr Handy labert. Er denkt sich, was ist nur los mit den jungen Leuten und fühlt sich etwas unbehaglich. Hans hat Probleme mit den Lebensweisen der Jungen. Er gesteht sich das ein. Was er jedoch nicht akzeptieren will, ist, warum er, der die Halbzeit seines Lebens bereits weit hinter sich hat, sich dazu verpflichtet fühlen sollte, seine Energie darauf zu verwenden, diese Lebensweisheiten verstehen zu lernen und, schlimmer noch, all die neu gewonnen Ansichten neuer Generationen an sich selbst zu überprüfen und in weiterer Folge auch in jeder Lebenssituation anzuwenden. Er sieht das nicht ein. Seiner Frau hingegen ist das alles völlig gleichgültig. Sie spricht ohnehin sehr wenig, schreibt auch keine E-Mails oder Kommentare in Foren oder auf Social Media. Daher kann es ihr auch kaum passieren, dass sie versehentlich darauf vergisst zu gendern oder sie sich in der Bezeichnung irgendeiner ethnischen Gruppe vergreift. Nicht dass es ihr nicht auffallen würde. All das. Die Sache mit den Handys zum Beispiel. Sie sieht sehr wohl immer den jungen Nachbarn auf dem Balkon auf der anderen Straßenseite, der so irrsinnig oft Fotos von sich selber macht, und ja klar fragt sich dann, warum man so irrsinnig oft Fotos von sich selber machen muss. Aber sie spricht diese Frage niemals laut aus.  

Gerade gestern hat sie ihn wieder dabei beobachtet. 

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